Direktwahl der Regierung
In unserem heutigen Politiksystem fehlt mir das wichtigste demokratische Bürgerrecht: Ich kann die Regierung nicht wählen. Ich muß stattdessen Parteien wählen und erfahre erst nach der Wahl und nach den Koalitionsverhandlungen, wer Kanzler und wer Minister geworden ist. Im schlimmsten Fall gibt es eine „Koalition der Verlierer“.
Steingart („Die Machtfrage“) hat Beispiele für die Entmündigung der Wähler aufgelistet: Nach 16 Bundestagswahlen hat die SPD fünfmal den Kanzler gestellt, obwohl ihr Kandidat nur dreimal – 1972, 1998 und 2002 – in der Gunst der Wähler vorne lag. Franz Josef Strauß erhielt 1980 mehr Stimmen als Helmut Schmidt, und 1976 schnitt Helmut Kohl besser ab als Helmut Schmidt. Trotzdem wurden sie damals nicht Kanzler, weil sich die FDP anders entschied. Gerhard Schröder führt als Spitzenmann den Wahlkampf 2009. Nur Wochen später heißt der neue Spitzenmann der SPD Frank-Walter Steinmeier. 43 % der Wähler entschieden sich bei der bayrischen Landtagswahl 2008 für den Ministerpräsidenten Günther Beckstein. Weil aber dieses Wahlergebnis die Partei enttäuschte, mußte er seinen Platz für Horst Seehofer freimachen, der aber auf keinem Wahlzettel gestanden hatte.
Wie könnte es besser funktionieren? Eigentlich ist die Sache sehr einfach: Der Bürger will eine Regierungsmannschaft und ein Programm wählen. Eine Wahl hat er nur, wenn sich mehrere potentielle Regierungsmannschaften bewerben, und er sich über die Medien ein objektives Bild von den Bewerbern und deren Plänen machen kann. Ist dann eine Regierung mit Mehrheit gewählt worden, will er, daß deren Macht kontrolliert wird und er die Regierung abwählen kann, wenn sie nicht hält, was sie versprochen hat.
Im Modell der mandativen Demokratie wird die Regierung direkt gewählt. Der Wahlvorschlag muß Kanzler und Minister mit ihren Ressorts nennen. Für jedes zur Wahl gestellte Regierungsmitglied sind in einem kurzgefaßten schriftlichen Profil die wichtigsten Lebensdaten einschließlich des beruflichen Werdegangs, sowie bisherige Funktionen und Mandate anzugeben. Dem Wahlvorschlag ist ein kurzgefaßtes Regierungsprogramm beizufügen. Es hat die wichtigsten Ziele und Maßnahmen der kommenden Wahlperiode darzustellen. Zwingend darzulegen ist, wie sich das Regierungsprogramm in eine längerfristige Zielplanung einbettet und wie alles finanziert werden soll.
Wahlvorschläge können von Parteien, Parteien-Koalitionen oder Ad-Hoc-Bündnissen kommen. Sogar zwei Bewerbermannschaften aus der gleichen Partei wären möglich.
Die Wahlperiode beträgt entweder sechs Jahre ohne Wiederwahlmöglichkeit oder vier Jahre mit einmaliger Wiederwahlmöglichkeit.
Gewählt ist die Bewerbermannschaft, die die absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen erhält. Sollte diese im ersten Wahlgang nicht erreicht werden, ist im zweiten Wahlgang ein Stichentscheid zwischen den beiden Erstplazierten herbeizuführen.
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Am 7. Mai 2012 um 14:16 Uhr
Ich habe Ihr Buch mit großem Interesse gelesen. Ich finde es sehr verdienstvoll, die vielen relevanten Perspektiven für die Effizienz bzw. die Ineffizienz einer Demokratie vorgeführt zu bekommen.
Trotzdem meine ich aber, dass man nicht davon ausgehen kann, dass eine Veränderung der gegenwärtigen Organisationsstruktur der Demokratie in Richtung Mandative Demokratie (MD) alle einleitend genannten Probleme in ihrem Buch zu lösen vermag. Vielmehr werden mit Sicherheit neue Probleme bereits bei dem Versuch einer Einführung entstehen. Damit würde eine ganzheitliche Etablierung eines geschlossenen Systems Ihrer Vorstellung grundsätzlich verhindert werden. So bliebe die Mandative Demokratie letztlich doch nur eine gut gemeinte Utopie.
Die Hauptpunkte meiner Kritik an der MD sind:
1. Eine MD ist nicht mehrheitsfähig.
Starke Mehrheiten wären erforderlich, um eine entsprechende Strukturveränderung überhaupt in Erwägung zu ziehen, geschweige denn auf der Basis von des „Volkes Wille“ verbindlich und auf Dauer zu etablieren. Die Interessen der Bevölkerung sind extrem unterschiedlich. Es ist daher sehr fraglich, ob sich die verschiedenen Interessen alle unter einen Hut bringen lassen. Erhebliche Konflikte sind zu erwarten, da es durch eine Systemveränderung Gewinner und Verlierer geben wird. Diese lassen sich aber durch die Instrumente einer MD nicht einfach lösen. Zu erwarten sind erhebliche Konflikte , wie zum Beipiel in Stuttgart 21. Auch wirtschaftliche Probleme, wie Rezessionen, Arbeitsplatzverluste u.a.m. wären nicht auszuschließen.
2. Die MD führt zu einer elitären Veranstaltung.
Alle Wähler an allen politischen Entscheidungen teilhaben zu lassen, so, wie in dem Kapitel MD beschrieben, ist eine theoretische Vision, die bereits im Ansatz nicht aufgeht.
Nachweislich interessiert sich die Masse der Bevölkerung nicht für politische Programme, geschweige denn für politische Details. Daher ist es fraglich, ob sie tatsächlich einen Vorteil für sich darin sieht, wenn sie über politische Organisationsstrukturen und alternative Programmpunkte abstimmen kann. Erfahrungsgemäß geht das Interesse nicht über oberflächliche und traditionelle Aspekte hinaus. Heutzutage gilt das Interesse der großen Masse, wie schon im alten Rom, nicht über das Bedürfnis an Brot und Spielen hinaus. Daher konzentriert sich der Nutzen der MD auf den Kreis der Intellektuellen, die mitbestimmen wollen und selbst dort nur auf den eingeschränkten Kreis der politisch Aktiven. Die MD würde daher zu einer elitären Veranstaltung absinken.
3. Die MD führte zu einer unerträglichen ökonomischen Ineffizienz.
In einer wettbewerbsorientierten Wirtschaft in einem globalen Rahmen sind schlanke Ablauf-Prozesse in allen Produktions- und Verwaltungsabläufen erforderlich. Wer das nicht wahr haben will, wird kurz über lang zu den Verlierern gehören und aus dem Wettbewerb ausscheiden. Diese Perspektive ist nicht nur für die Wirtschaft von Bedeutung, sondern auch für politische Prozesse. In der MD würden, wie beschrieben, eine Fülle von Einzelentscheidungen anstehen, über die es abzustimmen gilt. Wie soll das funktionieren, wenn alle Bürger diskutieren und entscheiden sollen, und zwar ohne den notwendigen Sachverstand und jeweils orientiert an kontroversen Interessen und Standpunkten. Zu erwarten sind endlose Diskussionen über Jahre, ohne dass dabei ein Ergebnis zustande käme, mit dem die für die Durchführung Verantwortlichen arbeiten könnten. Die MD gerät daher in die Situation, dass nicht fachlich fundierte Entscheidungen fallen, sondern Entscheidungen nach Bauchgefühl und weltanschaulichen Vorurteilen. Diese Situation würde zu zeitlichen Verzögerungen bei der Durchführung und ebenso zu erheblichen Mehrkosten führen.
Stuttgart 21 ist ein abschreckendes Beispiel.
4. Die MD hat fundamentale Elemente, die nur über eine Revolution erreichbar wären.
In der MD gibt es revolutionäre und evolutionäre Elemente. Revolutionär ist zum Beispiel die Forderung nach Abschaffung des Parlamentes und der Parteien. Dieses Kernstück unserer heutigen Demokratie, das sich über die geschichtliche Entwicklung unseres Landes und auch unserer europäischen Nachbarn mit Blut und harten Auseinandersetzungen der rivalisierenden Gruppen über Jahrhunderte entwickelt hat, wird heute kaum jemand der politisch Interessierten einfach aufgeben wollen. Eine extreme Bewegung, die das mit Gewalt versuchen wollte, würde mit Gewalt daran gehindert werden.
Andere Elemente im System der MD dagegen, wie zum Beispiel der Ausschluss der Wiederwahl nach Ablauf einer Legislaturperiode, wären durchaus prüfenswert und könnten die Demokratie evolutionär weiterentwickeln. Zu diesem Themenkreis gehört auch die Forderung, Parteiprogramme und mögliche Koalitionen vor der Wahl für den einfachen Bürger verständlich darzustellen.
Fazit
Was ich gut finde ist, dass Sie in ihrem Buch das breite Spektrum von problematischen Entwicklungen der Vergangenheit aufzeigen und damit bewusst machen, dass es in der Zukunft Veränderungen geben muss. Wir alle haben viel zu sehr nur die Gegenwart im Auge und nicht, welche Konsequenzen sich aus gegenwärtigem Verhalten für die Zukunft ergeben und wie unsere Nachfahren mit den Problemen umgehen könnten, die wir ihnen eingebrockt haben. Notwendige Veränderungen in unserem politischen Dasein setzen kritische Auseinandersetzungen mit Konzepten und den Personen voraus, die sie vertreten.
In diesem Sinne gibt ihr Buch über die Mandative Demokratie viele Denkansätze.
Am 9. Mai 2012 um 08:49 Uhr
Ich meine, alle von Dr. Möbius vorgetragenen Einwende ausräumen zu können.
Zu 1.: Das Konzept sei nicht mehrheitsfähig.
Da bin ich ganz anderer Meinung! Zunächst: Die mandative Demokratie beschreibt Regeln der politischen Willensbildung. Sie gibt keine politischen Inhalte vor. Es geht also gar nicht darum, ob christdemokratische, sozialdemokratische oder sonst eine Programmatik richtig oder falsch ist. Mit der Neugestaltung der Institutionen soll nur erreicht werden, daß Fehlanreize bei der Entscheidungsfindung, vor allem durch das Eigeninteresse der Berufspolitiker, minimiert und die Chancen für gemeinwohlorientierte Entscheidungen verbessert werden. Vom gegenwärtigen System profitiert nur die politische Klasse, und die stellt eine verschwindende Minderheit dar. Alle Umfragen belegen, daß die Bevölkerung mehr direkte Mitsprache bei den entscheidenden politischen Weichenstellungen wünscht.
Zu 2.: Die mandative Demokratie führe zu einer elitären Veranstaltung
Ich will keineswegs das Repräsentationsprinzip abschaffen. Repräsentation muß aber nicht durch ein Parlament erfolgen, sondern kann auch von einer direkt gewählten Regierung wahrgenommen werden. Die Bürger wollen eine sinnvolle Aufgabenverteilung: Die gewählten Politiker sollen im Rahmen des vor der Wahl verkündeten Regierungsprogramms ihren Job erledigen. Die Bürger wollen allerdings gefragt werden, wenn von diesem Programm in wesentlichen Punkten abgewichen werden soll oder neue wesentliche Fragestellungen auftauchen. Bei solchen fundamentalen Weichenstellungen funktioniert der praktische Menschenverstand der Normalbürger durchaus. Länder mit direktdemokratischen Befugnissen haben keine schlechten Erfahrungen damit gemacht.
Zu 3.: Die mandative Demokratie führe zu einer unerträglichen ökonomischen Ineffizienz
Da haben Sie mich völlig mißverstanden. Ich beklage ja gerade die Unfähigkeit unseres parlamentarischen Systems, die als notwendig erkannten Entscheidungen auch durchzusetzen. Mit der direkten Wahl der Regierung erhält diese das Mandat, ihr Regierungsprogramm in Gesetze zu gießen und unverwässert zu realisieren. Nichts wird mehr zerredet und die Verantwortlichkeiten sind klar zugeordnet.
Zu 4.: Die mandative Demokratie habe fundamentale Elemente, die nur über eine Revolution
erreichbar wären.
Mir geht es erklärtermaßen zunächst darum, ein m.E. besser funktionierendes System zu beschreiben. Erst wenn man weiß, wo man hin möchte, kann man als nächstes die zielführenden Schritte festlegen. Widerstand ist nicht bei den Bürgern zu erwarten, die ja nur zusätzliche Rechte erhalten sollen, sondern bei der politischen Klasse – und zwar über alle Parteigrenzen hinweg. Aber es gibt ja auch friedliche Revolutionen! Apropos Parteien: Die soll es auch in Zukunft geben, aber eben nicht mit Monopolfunktion der politischen Willensbildung.
Am 9. Juni 2016 um 09:22 Uhr
In dem Punkt „Renten“ kann ich dem Konzept der MD nicht zustimmen! Siehe dazu: Aus einem Interview mit Dr. Schäuble, veröffentlicht in der Lauenburger-Landeszeitung am 4.6.16: “…. und Rentenerhöhungen, wie man sie gar nicht mehr erwartet hatte.” Was ist das denn für eine abstruse und irreführende Aussage! Der Mann weiss es doch besser! Die angekündigten Erhöhungen sind Almosen, gemessen an den Unsummen, um die Beitragszahler und Rentner bisher enteignet wurden, weil mit ihrem Geld versicherungsfremde (vfl) Leistungen bezahlt wurden, anstatt diese sachgerecht aus dem allg. Finanzhaushalt zu zahlen. Der Anteil der vfL an den Rentenausgaben beträgt seit 1957 zwischen 33 und 35 Prozent (Positionspapier soziale Sicherung in Deutschland). Seit 1957 wurden der Rentenversicherung über 700 Mrd. Euro, politisch organisiert und gesetzlich legalisiert, entwendet. Unrecht wurde zu Recht! Entsprechend 2 volle Bundeshaushalte wurden so mit Rentenbeitragsgeldern finanziert. Dieses Geld fehlt den Beitragszahlern und Rentnern! Folge: Die deutschen Renten sind, gemessen am Durchschnittseinkommen, die niedrigsten in der EU. Wer es nicht glauben will, einfach mal im Internet nachsehen, z.B.:
http://www.adg-ev.de/index.php/netzwerk/kooperationspartner/104-buendnis-fuer-rentenbeitragszahler-und-rentner-ev oder hier http://www.bohrwurm.net/029.Rentenklautabelle.htm
In 2017 sind Wahlen. So ist zu vermuten, dass die jetzt hochgejubelten Rentenanpassungen wiederum nur die Wähler korrumpieren sollen. Man kauft sich die Stimmen der Wähler, mit deren Geld! Nach Alexis de Toqueville (1805-1859) ist das das Ende jeder Demokratie! Eine Rentenreform wäre es nur dann, wenn die Schulden, die von den Regierungen bei den Beitragszahlern gemacht wurden und werden, voll zurückgezahlt werden. Nicht nur die Lohnnebenkosten könnten dann sinken. Die Renten könnten um min. 35% höher sein und lägen dann etwa im EU-Schnitt.
Die Bevölkerung wird weiterhin dreist belogen, wenn Zahlungen aus dem Bundeshaushalt an die Rentenkasse, als Zuschüsse deklariert werden. Es sind nur Teil-Rückzahlungen! Mit dieser ungerechten und unsozialen Politik, mit der nebenbei auch Jung gegen Alt aufgehetzt wird, waren alle Regierungen – auch die GROKO – die besten Werbeträger für links- oder rechtsdemagogische Parteien.